Die Nachricht läuft gerade wie ein Lauffeuer durch die AV/UC-Branche: Die zwei Branchen-Schwergewichte Shure und Crestron haben etwas geschafft, was vor Kurzem noch viele vermeintliche Branchenkenner für sehr unwahrscheinlich hielten. Was also ist passiert und ist es wirklich eine Revolution für die AV-Systemintegration?
Diese Neuheit wird zurecht von den beiden Partnern ausgiebig gefeiert, siehe hier und hier. Die Kombination ist in der Tat besonders, ist es doch das erste AV-System zweier unabhängiger Hersteller ohne jegliche interne Verkabelung!
Der von mir geschätzte Tom’s Blog liefert die wichtigsten Infos in einem Blogpost, ohne jedoch auf die Hintergründe einzugehen. Leider zeigt das gemeinsame Video von Shure und Crestron ( Youtube-Link ) primär, dass auch Techniker Marketing-Texte vor einer Kamera runterlesen können anstatt die Branche wirklich emotional aufzurütteln.
Aber steckt hier nicht wirklich viel mehr dahinter?
Warum spreche ich von einer Revolution für die AV-Systemintegration? Welche Auswirkungen kann, nein, WIRD meiner Meinung nach diese Ankündigung für die AV-Technik im Meetingraum haben?
Im folgenden Blogpost möchte ich Ihnen einen Überblick verschaffen, warum diese einzelne Lösung zweier zugegebenermaßen wichtigen Firmen das Zeug hat für eine grundlegende Änderung unseres Business. Vielleicht sogar für einen Dammbruch, einer grundlegenden Umorientierung.
AV-Installationen sind eine PC freie Zone
Während praktisch alle anderen Bereiche der professionellen Audio/Video-Industrie schon lange auf PC-Technik statt proprietärer Hardware setzen, war und ist die AV-Installation scheinbar ein gallisches Dorf. Das ist insofern eigenartig, als die Anforderungen in den allermeisten Audio-Installationen schon längst von „normaler“ PC-Technik realisiert werden könnten.
Im Tonstudio ist es schon fast 10 Jahre her, dass Avid Pro Tools & Co fast ausnahmslos nativ auf PC & Mac läuft. Dies bedeutet: Es wird keine Spezial-Hardware in Form von DSP-Farms benötigt, sondern die CPUs von Intel und AMD führen alle Berechnungen selbst durch. Im Idealfall hilft noch eine GPU als potenter Rechenknecht mit. Die Anbieter können zusehen, wie die PC-Welt von Jahr zu Jahr leistungsfähigere Hardware anbietet.
Auch im Livebetrieb sind die Tage von schweren Sideracks mit unzähligen Effektgeräten schon lange vorbei. Entweder sind die Effekte gleich im Mischpult eingebaut (Beispiel Allen & Heath) oder ein kleines Notebook mit passender Waves Software liefert jeden nur erdenklichen Audio-Effekt.
Auch Videoschnitt und Nachbearbeitung sind dank Lösungen wie Blackmagicdesign Davinci Resolve schon längst fix in PC-Hand.
Selbst Live-Produktionen werden zunehmend mit nativen PC-Software-Lösungen wie z.B. VMIX realisiert.
Und im Meetingraum? Hier gibt es bis zum heutigen Tag eine strenge Trennung:
Auf der einen Seite die proprietären Audio-DSPs und auf der anderen Seite die UC-Engines, also PCs oder Macs, auf denen ein Soft-Codec für Conferencing läuft. Die Verbindung dazwischen ist ein USB-Kabel und wie zum Trotz hat man sich eine Schnittstelle ausgesucht, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite wirklich beliebt ist.
Die PCs sind gut im 19“-Rack versteckt
Aber gibt es wirklich keine PCs in der Audio-Fixinstallation? Selbstverständlich; diese sind aber sehr gut versteckt! Natürlich können sich auch die AV-Hersteller nicht der Wirtschaftlichkeit von PC-Technologie komplett verschließen. Fast könnte man glauben, dass man daraus ein Geheimnis machen will. Anstatt eine Revolution für die AV-Systemintegration mit den nun neuen Möglichkeiten auszurufen, tröpfeln die Innovationen gefühlt nur nach und nach in die Produkte.
Beispiel 1:
Eine der erfolgreichsten Anbieter von Audio-DSPs ist zweifellos QSC. Deren Q-SYS Produkte sind lupenreine Mini-PCs samt Linux und node.js als zentrale Software-Komponenten. Beim großen Q-SYS 5200 Core wird ausnahmsweise sogar öffentlich klargestellt, dass es ein ganz normaler DELL R740 Server ist .
Ein ganz essentieller Punkt ist jedoch, dass der Kunde die jeweilige DSP-Software NICHT auf seinem eigenen, d.h. beigestellten Server installieren kann! Genau das hatte QSC 2017 schon einmal probiert (siehe hier https://www.qsc.com/news/news/detail/qsc-provides-glimpse-into-the-future-of-audio-video-and-control-processing-at-ise-amsterdam/ ) und ist damit leider gescheitert. Die Meinungen, woran dies gelegen hat, gehen auseinander. Vielleicht war einfach die Zeit damals noch nicht reif.
Beispiel 2:
Shure bietet mit dem IntelliMix P300 Audio Conferencing Processor einen kleinen, aber durchaus leistungsfähigen Audio-DSP. Dieser ist speziell im UC-Umfeld recht beliebt: Per USB-Schnittstelle an die UC-Engines mit Zoom oder MS Teams angedockt, auf der Audio-Seite die smarten Tisch- und Decken-Mikrofone per DANTE eingebunden und das alles per PoE+ betrieben. Nett.
Der P300 ist jedoch im Grunde genommen auch nur ein Mini-PC. 2020 hat Shure den entscheidenden Schritt gewagt und die Software von der Hardware getrennt.
Voila, willkommen Shure IntelliMix® Room for Windows.
Intellimix Room läuft auf jedem 64-Bit Windows System mit durchaus bescheidenen Minimal-Anforderungen:
- Processor: Intel (64 bit), 7th generation Core i5, 2.2 GHz, 4 physical cores
- Memory: 8 GB RAM
- Storage: Solid State Drive (SSD) required
Wie man aus der Branche hört, ist der bisherige Erfolg dieses Software-Produktes noch ziemlich überschaubar. Zu sehr sind die AV-Integratoren noch immer im „Box-Moving“ verhaftet. Schade eigentlich, aber so leicht gab sich Shure nicht geschlagen und hat nun eine echte Killer-Applikation gefunden.
Die Revolution für die AV-Systemintegration:
Der Audio-DSP wandert AUF die UC-Engine
Bekanntlich laufen die Raum-Clients von Zoom und MS Teams auf herkömmlicher PC-Technik. Der Begriff Soft-Codec verdeutlicht, dass es eine Software-Lösung ist im Vergleich zu den Videokonferenz-Geräten mit proprietärer Hard- & Software-Kombination.
Und genau hier schließt sich der Kreis. Wenn schon beide Software-Pakete jeweils auf einem PC laufen, warum nicht beide auf EINEM PC GEMEINSAM betreiben? Natürlich muss dieser entsprechend leistungsfähig sein, aber das ist heutzutage wahrlich kein Problem mehr.
Harald Steindl
Man muss den Partnern Shure und Crestron wirklich gratulieren, dass sie es geschafft haben, Microsoft von der Vernünftigkeit einer solchen Lösung zu überzeugen. Ganz leicht war das sicher nicht, gibt es doch bis dato noch überhaupt keine (öffentlichen) Testkriterien für eine solche Kombination. Logischerweise sind damit auch alle Interfacing Probleme in Sachen AEC mit einem Schlag vom Tisch! Bravo!
What’s next? Ausblick auf wirklich tief integrierte Systeme
Genügt das alles schon, um eine Revolution für die AV-Systemintegration auszulösen? Werden nun andere Anbieter nachziehen und ebenfalls Soft-DSPs anbieten? Gut möglich und im Sinne einer größeren Auswahl sicher wünschenswert. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter (oder sind es gleich mehrere?) und stelle mir folgenden Szenarien vor:
- UC-Clients auf eigener Audio-Hardware
Warum nicht den Spieß umdrehen und den Teams/Zoom/etc. Client auf einem Audio-Produkt installieren? Warum nicht Zoom-Rooms nativ auf einem QSC Q-SYS Core laufen lassen?
Die Scheuklappen der Plattform-Anbieter erlauben eine solche Denkweise wahrscheinlich noch nicht, aber es wäre mit Sicherheit eine absolut vernünftige Lösung.
Anstatt einen Mini-PC auf „Audio-Installation“ umzubauen, erfüllen aktuelle AV-Geräte schon alle Anforderungen in Sachen Bauform, Vertriebskanal, Support-Strukturen u.ä. - Massive Erweiterung der Funktionalität von Audio-DSPs
Auf diesem Blog wurde es schon mehrmals angesprochen.
Die Schere zwischen der Leistungsfähigkeit von traditionellen Audio-DSPs unserer Branche und den cloud-getriebenen Algorithmen der Software-Anbieter (siehe hier ) geht stetig weiter auf. Wenn sich die beiden Welten nun auf der gleichen Hardware treffen, gibt es plötzlich enorme Synergien und ein nie gekanntes Preis/Leistungsverhältnis für den Kunden. - Gleiches gilt für Video
Wenn auf einer UC-Engine dank DANTE Virtual Sound Card plötzlich Audio übers LAN rein und raus geht, ist ähnliches auch für Video möglich.
NDI ist eine dafür perfekt geeignete Lösung. Eine solche Vernetzung ist Bedingung für den folgenden Punkt. - Conference Hosting
Anstatt in jedem Meetingraum einen eigenen kleinen PC mit der entsprechenden Software zu haben, wird man künftig diese zentralisieren.
Was z.B. Crestron in der Welt der Mediensteuerung mit Crestron Virtual Control VC-4 macht, kann durchaus auch im Conferencing funktionieren. Übers Netzwerk abgesetzte Mikrofone, Kameras und sogar Lautsprecher erlauben die Verschiebung der Conferencing-Hardware ins (lokale) Rechenzentrum. Man denke nur daran, welche Auswirkungen das auf Kundengruppen wie Universitäten hat, wenn die Ausrollung von Collaborations-Technik in jeden Hörsaal plötzlich ganz einfach wird!
Zusammenfassung
Was Crestron und Shure gerade in Sachen MS Teams Rooms angekündigt haben, ist mit Sicherheit ein Meilenstein in der AV-Welt, eine Revolution für die AV-Systemintegration:
- Nicht, weil es technologisch so grandios wäre, denn die Technik dafür steht schon seit Jahren zur Verfügung.
- Auch nicht, weil es unmittelbare Auswirkungen auf den Markt hat. Die allermeisten AV-Integratoren werden mittelfritig weiterhin auf Hardware-Verkauf setzen, weil dies aus ihrer Sicht das bessere Geschäft ist im Vergleich zum Verkauf von Software-Lizenzen.
Aber es öffnet den bis dato recht abgeschotteten Markt der AV-Installation für neue Anbieter:
- Service-Provider werden die Chance nutzen, ihre Kunden mit gänzlich anderen Systemdesigns zu begeistern und damit ebenfalls gute Geschäfte machen.
- Innovative DSP-Software-Anbieter müssen nun nicht mehr eigene Hardware bauen, um in der AV-Installations-Branche mitspielen zu können. Stattdessen werden sie ihre Produkte als Software vermarkten.
All diese Entwicklungen benötigen ein ordentliches Fundament an Beratung und Planung. Dafür stehe ich gerne zur Verfügung. Ich freue mich auf Ihre Anfragen bzw. Kommentare.